Das mia san mia Fanomen

Sie hüten ihre Glücksbringer-Trikots wie Schätze, sie zeigen bei Niederlagen mehr Emotionen als ihre Ehefrauen sonst von ihnen erleben, sie treffen sich mit Freunden in Kneipen, um ihren Verein zu sehen, sie verlieben sich in Spieler, sie verdammen den Schiedsrichter und verstehen nicht, wie andere nicht ihren Club genauso lieben wie sie. Das ist das Fan-Ding, so wie wir es kennen. Das ist die Liebe zum Fußballverein, wie sie die Dokumentation „Das mia san mia Phänomen“ zeigt (hier anschauen: http://www.dw.com/de/fc-bayern-münchen-dokumentation/a-40525205).

Doch diese Fans, deren Verhalten uns allen bekannt vorkommt, leben nicht in Bayern oder in Deutschland. Sondern in Rio de Janeiro, Nazareth, New York und Fukuyama. Sie verstehen sich als Teil der Familie des FC Bayern. Sie sind die wahren Helden dieses Films. Einer Auftragsarbeit von Niels Eixler und Manuel Vering für die Deutsche Welle.

Deutsche Welle! Das klingt nach Anspruch, nach kritischem Journalismus. Nach Bildungsfernsehen, finanziert mit Steuergeldern, das Menschen weltweit Deutschland in seiner Vielfältigkeit nahebringen soll. Es gibt sogar ein „Deutsche-Welle-Gesetz“, nach dessen Paragraphen 4 „Deutschland als europäisch gewachsene Kulturnation und freiheitlich verfasster demokratischer Rechtsstaat verständlich zu machen“ ist.

Meine Erwartungen waren hoch. Einen Film über meinen Verein, in Kinofilmlänge, der nicht von einem Sportsender oder gar vom clubeigenen fcb.tv produziert wurde.

Nach 58 Sekunden habe ich zum ersten Mal eine Gänsehaut. Die Bilder von Wembley, der unfassbar sympathische Sammy Kuffour mit ebenso sympathischem Bauchansatz am Pool seiner Villa in Ghana, der Kung-Fu-Sprung von Oli Kahn, ganz fairer Sportsmann Zentimeter an Heiko Herrlich vorbeigezielt, die Wucht der Ultra-Gesänge in den Straßen von Madrid: wow.

Ich lasse mich einfangen von den Bildern, genieße die Emotionen, vergesse meine ursprüngliche Erwartungshaltung. „Ich hau Dir aufs Maul!“ denke ich noch einmal, als ich erstmals wieder nach 30 Jahren Juanitos Tritt ins Gesicht von Matthäus sehe. „Scheiße ist das schlecht verteidigt“ rufe ich, als Solskjaer 1999… Ich falle in Gedanken noch einmal auf die Knie, als Oli 2001 den dritten Elfmeter von Valencia abwehrt – und bleibe gleich am Boden, um Schweinsteiger nach seinem Fehlschuss im Finale Dahoam zu trösten.

Ein toller Film, für Fans. Und das „mia-san-mia-Phänomen“? Naja, an einer Interpretation des mia san mia beim FC Bayern ist noch jeder gescheitert. Auch dem Film gelingt es nicht, trotz einer Reise von 50.000 Kilometern um die Welt auch nur in die Nähe einer guten Erklärung zu kommen. Hier die Versuche der gefragten ehemaligen Spieler und Trainer:

Bulle Roth:
„Uns zieht keiner die Lederhosen aus. Mia san mia, mia san die Bayern. Wir halten zusammen. Bei uns bleibt alles in der Familie. Uns kann keiner schlagen.“

Uli Hoeneß:
„Um das mia san mia zu verstehen und zu erleben, muss man die bayerische Kultur kennen.“

Carlo Ancelotti:
„Mia san mia ist eine starke Botschaft der Zusammengehörigkeit.“

Oliver Kahn:
„Mia san mia ist die Beschreibung einer Kultur. Die man erst als Spieler lernen muss. Nichts großkotziges. Bedeutet auch im Erfolg eine Demut zu bewahren. Aber auch: Wir können alles gewinnen.“

Giovane Elber:
„Du darfst nicht zufrieden sein, wenn Du was gewonnen hast. Du musst immer wieder etwas gewinnen. Mia san mia – das bedeutet wir sind eine Familie. Sogar mehr als eine Familie.“

Sammy Kuffour:
„Mia san mia? Das kann ich nicht beschreiben.“

Philipp Lahm:
„Mia san mia ist ein Gefühl. Es zeigt das Selbstverständnis des ganzen Vereins, immer maximalen Erfolg haben zu wollen. Was bedeutet es, beim FC Bayern zu sein? Was ist die Kultur, was sind die Werte, die der FC Bayern transportiert? Ich glaube, dass das sehr sehr wichtig ist. Und dann kann sich auch jemand von weit weg eingliedern in diese Gemeinschaft.“

Zusammengefasst: mia san mia hat aus Spielersicht also etwas mit Bayern, mit Familiensinn und ganz viel mit Erfolg und Siegeswillen zu tun. Die Süddeutsche Zeitung klärt über die Herkunft auf: mia san mia“ ist ein Spruch aus Österreich. „Im Materialarchiv des Bayerischen Wörterbuchs findet sich ein Hinweis auf das k.-u.-k. Hoch- und Deutschmeister Regiment Nr. 4 in Wien, …. In der Zeitschrift Wiener Studien von 1891 wird der Gesang der Deutschmeister zitiert: „Mir san mir – von Numero vier, …“

 

Zurück zum Film, in dem die 23jährige Camila Borborema aus Rio de Janeiro verblüffend abgezockt ihre Version des mia san mia erklärt:

„Zum Fußball gehören auch Geld, Investitionen und Management. Das ist der wahre Fußball. Es ist eben ein Unternehmen. Und wenn ich diese Dynamik begriffen habe, dann habe ich verstanden, worum es beim FC Bayern geht. Mia san mia ist für mich alles, was ein Fußballverein sein muss. Für mich ist das der FC Bayern in Perfektion.“

Vielleicht ist das die Stärke des „mia san mia“: Jeder Fan auf der Welt kann den Spruch für sich interpretieren. Ein Fanomen. Eine Hose, die jedem passt. Aber auch eine Hose, die merkwürdig beliebig daherkommt. Vielleicht ist das mia san mia wie die bayerische Lederhose, die längst weltweit zur Folklore verkommen ist.

Etwas zu viel Zucker. Als der Film zu Ende geht, fühle ich mich wie nach einer übergroßen Portion meiner Lieblingsschokolade. Ich habe Heißhunger nach einem scharfen Curry, oder irgendwas mit Zwiebeln. Denn der Film zeigte ausschließlich und untermalt mit elegischen Klängen die glänzende Seite des FC Bayern. Kein Wunder, wenn man ausschließlich Fans zu Wort kommen sowie verdiente Ehemalige und Uli Hoeneß in der Vergangenheit schwelgen lässt.

Die Dokumentation erfüllte nur einen Teil meiner Erwartungen: Die positiven Seiten der Internationalisierung des FC Bayern, seine weltweite Strahlkraft wurden eindrucksvoll vermittelt. Doch in der ganzen Süße fehlte das Salz.

Kein Wort zu Katar. Kein Wort zu den geschäftlichen Verbindungen nach China – die immer auch geschäftliche Verbindungen mit der dortigen Regierung sind. Was ist mit dem Spagat, den der FCB schaffen will zwischen Heimatverbundenheit und weltweiter Vermarktung? Wo überzieht der Club, wo vergisst er seine Werte? Welche Werte sind das überhaupt, die Kahn und Lahm ansprechen? Die Zerrissenheit, einerseits wohltätig zu sein, andererseits auf der fußballkapitalistischen Welle ziemlich unkritisch mitzuschwimmen – wurde überhaupt nicht thematisiert. Dabei ist das aktuell das eigentliche Spannungsfeld, in dem der Club sein mia san mia leben will. In dem er einiges richtig macht, aber auch immer wieder scheitert.

Die taz fragt zurecht: „Wie wäre es mit einem Film über die Schwierigkeiten eines wachsenden Fußballunternehmens, die immer schon dagewesenen Fans dahoam ebenso zu beglücken wie die neuen Kunden in Fernost? Wir wäre es mit einem Film, der nicht auch auf fcbayern.tv laufen könnte? Wir wäre es mit Journalismus?“

Fragen, die auch ich nach dem Film habe – und über die ich mit Regisseur und Autor Niels Eixler gesprochen habe:

Ihre Dokumentation wirkt wie ein Projekt, das auch das vereinseigene FCB.TV in Auftrag hätte geben können. Was war das Motiv, im Namen der Deutsche Welle solch eine unkritische, geradezu rosarote Dokumentation zu drehen?

Niels Eixler:
Die Deutsche Welle beauftragte mich mit einem Fußballfilm. Konkret sollte es ein Film über den FC Bayern werden. Ich wollte hier gerade nicht ein investigatives Erklärstück machen, wo am Ende keine Fragen offen bleiben. So etwas macht die Deutsche Welle sonst – übrigens auch zu Fußballthemen. Hier ging es mir um die Darstellung der Emotionen von Fans in aller Welt. Emotionen im Kinoformat. Das war mein Motiv für diesen Film

Wäre es aber dennoch nicht zwingend notwendig gewesen, auch die Schattenseiten der Internationalisierung des FC Bayern zu thematisieren?

Niels Eixler:
Von außen betrachtet, haben Sie vollkommen Recht. Die Frage drängt sich auf. Doch diese Seiten passten einfach nicht in die Story, die ich im Kopf hatte. Wenn Sie einen Film planen, haben Sie ja eine Geschichte im Kopf, die Sie erzählen wollen. Sie besetzen Rollen, die zur Geschichte passen.

Und ein Arbeiter aus Katar war da nicht vorgesehen?

Niels Eixler:
In diesem Film nicht. Wobei es absolut eine eigene Dokumentation wert wäre, das ganze internationale Fußballgeschäft auch von diesen dunklen Seiten her zu beleuchten.

Einer der Fans im Film ist ein Palästinenser, der in Nazareth lebt. Wäre es hier nicht interessant gewesen, die Vereinshistorie um den jüdischen Präsidenten Kurt Landauer anzusprechen?

Niels Eixler:
Im Bundesliga-Magazin „Kick off“ der Deutschen Welle haben wir der Landauer-Thematik viel Platz eingeräumt. So haben wir im Jahr 2014 die Schickeria München begleitet zur Preisverleihung des Julius-Hirsch-Preises und mit einem Filmbeitrag unseren ausländischen Zuschauern vermittelt, wer Kurt Landauer für den FC Bayern war. In der Dokumentation jetzt habe ich dafür keinen Platz gesehen.

Wenn man sich die Dokumentation anschaut, hat man das Gefühl, das etwas fehlt an der Darstellung des FC Bayern. Wie sehen Sie das?

Niels Eixler:
Sie können natürlich mit keinem einzelnen Film einen Verein wie den FC Bayern mit seiner 117jährigen Geschichte vollständig abbilden oder gerecht werden. Ich finde das eigentlich genau richtig, dass der Film die von Ihnen beschriebenen Lücken hat. Die Menschen sollen aus dem Film kommen und dann am besten darüber diskutieren. Ist das der ganze FC Bayern? Was bedeutet dem Einzelnen das „mia san mia“? Wenn die Fans darüber ins diskutieren kommen, wäre ich zufrieden.

Herr Eixler, vielen dank für das Gespräch!

 

Nachtrag:
Mein Lieblingsprotagonist im Film ist der Vater eines Jugendspielers der ersten japanisch-deutschen Fußball Akademie. Die wurde im April 2012 gegründet mit Unterstützung des FC Bayern und einer Großwerft (!), der Tsuneishi Group in Fukuyama. Bemerkenswert, welche Blüten die Internationalisierung so treibt. Aber gut, anderes Thema. Jedenfalls gibt es 9.161 Kilometer von München entfernt nun einen Fußballverein, offizielles Mitglied der Japan Football Association, der tatsächlich „FC Bayern Tsuneishi“ heißt. Eins der großen Talente dort ist Kanata Tokumotu aus der U15 Japan-Auswahl. Auch sein Vater wird nach dem mia san mia gefragt. Er lächelt und antwortet mit seiner eigenen Philosophie:

„Sich für alle bemühen. Weil man nicht allein lebt. Deshalb sollte man nicht nur an sich selbst, sondern auch an andere denken.“

Könnte das nicht auch ein Teil des „mia san mia“ werden?