„In der großen Pause holen wir uns die Bielefeld-Fahne.“

Wir, das waren meine Grundschulfreunde und ich im Sommer 1980. Wir waren gerade in die 2. Klasse gekommen und ich war „der Neue“. Umgezogen von Essen nach Enger. Von der Großstadt in die Provinz. Vom Ruhrgebiet nach Ostwestfalen. Hier auf dem Land, zwischen Bauernhöfen und unter ewig grauem Himmel, eröffnete sich mir eine neue Welt. Die Welt des Fußballs. Es war in der Jungs-Umkleide der Turnhalle unserer Schule. Gesprächsthema, in der Reihenfolge: Karl-Heinz Rummenigge. Der FC Bayern. Deutscher Meister. Neue Vokabeln. Ich hatte absolut keinen Schimmer, wovon die Rede war. Meine Eltern, mein gesamtes Umfeld hatten mit Fußball nichts am Hut. Ich selbst konnte schneller rennen, weiter und höher springen als alle um mich herum. Leichtathletik war mein Sport. Fußball? Nicht ein Spiel hatte ich gesehen. Nicht gegen einen Ball hatte ich getreten. 

Aber das klang spannend, was die Jungs in der Umkleide erzählten: Wie gut dieser Rummenigge sein sollte, wie grandios die Bayern. Und wie schlecht diese Bielefelder. Vom ersten Tag in meiner neuen Gang lernte ich: Zu einer Anhängerschaft gehört immer auch die Rivalität zu einem Gegner. Und welcher Verein lag damals auch geographisch näher bei uns im Kreis Herford als Arminia Bielefeld? Tatsächlich trennten den FC Bayern und Arminia Bielefeld damals nur eine Wand zwischen zwei Klassenräumen. Wir, die 2a, waren geschlossen den Münchenern zugetan. Die neben uns, die 2b, hielt es mit den Bielefeldern. Ich wurde also zum Bayern-Fan nicht wegen eines prägenden Stadionbesuches mit meinem Vater, nicht wegen eigener Erfahrungen in einem Fußballverein, sondern wegen der glücklichen Fügung, in die richtige Klasse gekommen zu sein – und wegen einer Rivalität zu den Kindern der Parallelklasse. Da wollte ich dazugehören. Hier konnte ich mich in der neuen Gruppe behaupten. Die nächste Pause kam – und wir stürzten uns auf die Jungs der 2b, die ihre Fahne von Arminia Bielefeld schwenkten. Eine ungeheure Provokation. Der Überfall war kurz und erfolgreich: Nach kurzem Gerangel und Gezerre bekam ich die Fahne zu fassen, rannte damit über den Schulhof, die Arminen konnten mir nicht folgen. Hier und jetzt würde ich die Ehre des FC Bayern retten, einen Sieg einfahren. Ich lag uneinholbar vorne – bis ich einem Lehrer in die Arme lief. Wir hatten uns zu früh gefreut. Das Spiel war noch nicht zu Ende. Wie schmerzhaft diese Erkenntnis sein könnte, musste ich 19 Jahre später erfahren. Hier, an diesem Sommertag im Jahr 1980, war es nur ein Zwischenstopp zu einer im Rückblick grandiosen Zeit: meiner Zeit als Fan des FC Bayern.

Die lebte ich zunächst so aus, wie das in den frühen 80ern allen Kindern ging, die in NRW weit entfernt von Bayern lebten: Am Radio auf WDR 2 (vor allem, wenn der FC Bayern gegen „Westvereine“ spielte) und ansonsten im Bayerischen Rundfunk (Mittelwelle, lausiger Empfang). Dazu mit dem Sportteil der Westfälischen Nachrichten und dann recht schnell auch mit dem Montagskicker, in den ich mein Taschengeld investierte. Für das Aktuelle Sportstudio durfte ich anfangs noch nicht aufbleiben. Blieb immerhin die Sportschau, die zum Glück recht häufig die Zusammenfassung des Bayernspiels zeigte.

Erst drei Jahre später, 1983, sollte ich das erleben, was bei vielen Fans der Beginn ihrer Liebe zu einem Verein ist. Das Erweckungserlebnis Stadionbesuch. Arminia Bielefeld spielte schon einige Jahre in der ersten Liga – und nur 18km von mir entfernt. Aber meine Eltern waren der Meinung, dass ich noch zu jung sei für einen Stadionbesuch. Fußball im Stadion war damals alles andere als glamourös. Unter den Erwachsenen, die mit Fußball wenig am Hut hatten, erzählte man sich gruselige Geschichten von Schlägertrupps, Neonazis und Alkohol. Keine Umgebung für einen behüteten zehnjährigen Pastorensohn.

Doch mein bester Freund, natürlich Bayernfan, durfte mit seinem Vater ins Stadion. „Anständige Leute“, die meine Mutter beruhigten, dass sie gut auf mich aufpassen würden. Und am 20. August 1983 war es soweit: Die beiden nahmen mich mit auf die Alm. Zum Spiel der Bielefelder gegen die Bayern. Es war der 2. Spieltag, die Bayern hatten mit Udo Lattek einen neuen Trainer. Dazu beide Rummenigge-Brüder an Bord. Wir hatten Stehplätze auf der Tribünenseite. Standen ganz unten am Zaun. Das war vor Spielbeginn toll, weil einige Spieler und dazu Uli Hoeneß am Zaun vorbeiliefen und unsere ausgestreckten Hände abklatschten. Während des Spiels war das nicht mehr so toll, weil ich nur eine Spielfeldhälfte vor mir sah. Vom Führungstor durch Kalle del Haye schon nach sieben Minuten erfuhr ich durch tumultartigen Jubel und meiner ersten Bierdusche. Wir standen offenbar zwischen vielen Bayernfans. Nur zwei Minuten später glich Bielefeld aus. Direkt vor uns. Darauf hätte ich gerne verzichten können. Banges Warten bis zur 34. Minute, als die Bayern, wieder unsichtbar für mich, erneut in Führung gingen. Wolfgang Grobe erlöste mich von der Sorge, dass die in meiner Phantasie überirdisch starken Bayern eventuell gegen die Bielefelder (die Bielefelder!) nicht gewinnen könnten. Der Höhepunkt für mich dann in der 89. Minute. Karl-Heinz Rummenigge mit dem 3:1 auf unserer Spielfeldseite. Die Zuschauer hinter uns drückten mich im Jubel gegen den Zaun. Egal. Ich hatte nur Augen für den Torschützen Rummenigge, den ich so bewunderte. Kalle, der mich von allen Wänden meines Zimmers als Posterboy anschaute. Wenn es noch irgendeinen Moment gebraucht hätte, voll und ganz dem FC Bayern zu verfallen, das hier wäre er gewesen. Diese vorletzte Spielminute auf der Bielefelder Alm. Ich erfuhr, wie man durch einen Sieg seines Vereins ein paar Zentimeter größer wird. Damals als Knirps ein nicht unwichtiger Effekt. Wie man innerlich grinst (während man sich äußerlich nichts anmerken lässt, angesichts der respekteinflößenden Bielefelder Kuttenträger um einen herum).

Es war eine prägende Zeit. Der Beginn einer jahrzehntelangen Liebe. Und immer, wenn der FC Bayern München auf Arminia Bielefeld trifft, denke ich darüber nach.

Es gibt tatsächlich auf Youtube den Sportschaubericht zu diesem Spiel: