Vom Umgang mit den Mensch-Maschinen.

Mein letzter Blogbeitrag ist von August 2022. Er beschrieb Gründe für die wettbewerbsschädigende Dominanz des FC Bayern in der Bundesliga. Wenn ich das heute, April 2023 lese, kommt mir das vor, wie aus einer uralten Zeit. 

In den letzten acht Monaten ist der FC Bayern also vom unschlagbaren Endgegner, Langeweileproduzenten und Ligazerstörer zum „FC Hollywood von 2023 eV“ geworden. Mit inkompetenter Chaosführung – gegipfelt in einem Trainerwechsel zu einem Harakiri-Zeitpunkt, einem kaum wettbewerbsfähigen Kader, der sich gerade mal vor Freiburg und Union Berlin der Tabelle hält, satten Millionären auf dem Rasen, Kabinenprügelei, einer ganzen Maulwurf-Gruppe, dem schlechtesten Rasen der Bundesliga (noch ohne Maulwurfshügel immerhin), einem Zwerg als Neuer-Vertreter und einem neuen Trainer, der eigentlich auch gleich wieder entlassen gehört.

Soweit das mediale Feuer, die Schlaumeierei selbsternannter Experten, das Mistgabelschwenken vieler Bayernfans und die Häme mancher Schwarzgelber.

Was von der Zustandsbeschreibung des FC Bayern im Frühling 23 den Tatsachen entspricht und was absurde Übertreibung ist, kann ich nicht beurteilen. Klar ist, dass der Verein ein verheerendes Bild abgibt. Klar ist auch, dass die Mannschaft, fragiler als gedacht, zutiefst verunsichert ist. Das wurde bestätigt durch Thomas 1 und Thomas 2. Während Müller in Mainz mit gebrochener Stimme seine Ratlosigkeit offenbarte, wies Tuchel auf die vielen Nackenschläge hin, die das Team in den letzten Wochen und Monaten einstecken musste. Damit wird er einzelne Spielverläufe genauso gemeint haben, wie auch die Unruhe, die durch den Trainerwechsel entstand.

Nun, da die sportliche Misere ist, wie sie ist, zeigt sich, wer eine gute Führungskraft ist. Und das ist nicht, wer jetzt reflexhaft auf die Spieler draufhaut, ihnen „Wille“ und „Mentalität“ abspricht, Straftrainings verordnet und die halbe Mannschaft ins Transferfenster stellt.

Tuchel machte das richtige: 3 Tage frei. Mal an was anderes als Fußball denken. Thomas Müller kann Zeit im Pferdestall verbringen, Serge sollte shoppen gehen und Leon auf seiner schönen Dachterrasse in den blauen Himmel schauen. Mit etwas frischerem Kopf dann ab Mittwoch gemeinsam mit dem Trainerteam in Einzelgesprächen, frei von persönlichen Vorwürfen versuchen herauszufinden, wo individuell Probleme bestehen.

Warum so soft?

Weil unsere Spieler – auch wenn es in Hochphasen manchmal so wirkte – keine Maschinen sind. Keine Cyborgs. Es sind Leistungssportler, die ihre gesamte Jugend auf den Fußball ausgerichtet haben. Extrem talentiert, extrem leistungsbereit, extrem fokussiert, extrem belastbar – körperlich wie psychisch. Mensch-Maschinen. Sonst wären sie nie so weit gekommen, beim FC Bayern zu spielen. Und können wir ein für allemal feststellen, dass Leistungssportler immer gewinnen „wollen“?! Danke. Und können wir ferner festhalten, dass man nicht „mehr und schneller laufen“ soll, wenn man mehr Geld verdient? Diesen Kausalzusammenhang gibt es einfach nicht. Oder arbeitet Ihr „besser“, nach einer Gehaltserhöhung?

Kritik an den gezeigten Leistungen ist selbstverständlich notwendig. Aber es muss doch darum gehen, WARUM ein Leon Goretzka seit Monaten so „schlecht“ spielt. WARUM Serge Gnabry immer wieder solche Leistungsschwankungen zeigt. WARUM Upamecano immer wieder Blackouts hat. Jeder unserer Spieler im Kader wurde (hoffentlich) wohlüberlegt verpflichtet. Man hat bei jedem Einzelnen Qualitäten gesehen, die auf FC Bayern Niveau das Gesamtgefüge nochmal verbessern. Das waren Investitionen in Menschen, um deren Form und Fitness man sich, wenns gut läuft, rund um die Uhr kümmert. Wenns schlecht läuft aber, heißt es viel zu schnell und viel zu oft im Profigeschäft „verkaufen, der bringts nicht mehr, hat eigentlich noch nie gepasst, jetzt hilft nur noch Spieler xy aus Italien für drölfzig Millionen.“

Ich würde mir wünschen, dass der FC Bayern hier nicht die Reflexe zeigt, die schon in anderen Clubs nicht nachhaltig waren und einen Absturz höchstens vorübergehend gebremst haben. Dass zunächst einmal versucht wird, die vorhandenen Spieler zu stabilisieren, zu stärken, wieder besser zu machen. Es kann doch nicht sein, dass wir im August 2022 den geilsten Kader hatten, bei dem x Spieler sich die Torquote von Lewandowski aufteilten, mit Musiala, dem größten Talent im europäischen Fußball, mit Kimmich – einem der Top 5 Mittelfeldregisseure europaweit, mit einer CL-Gruppenphase und einem Achtelfinale aus 8 Spielen und 8 Siegen. Und dieselben Spieler sind nun plötzlich doch nur satte Millionäre und die Mannschaft ist gar keine. Das ist mir zu billig und zu blöd.

Ich empfinde große Dankbarkeit unseren Spielern gegenüber. Die seit einigen Jahren im Verein sind, Titel gewonnen und so viele fantastische Spiele gezeigt haben. Ein Thomas Müller ist 2facher Triplesieger, Weltmeister, 11x Meister. Und jetzt soll er „satt“ sein? Was für ein Unsinn. Wer 14 Jahre hungrig auf Erfolge war, ist nicht plötzlich satt.

Ja, wir brauchen einen echten Mittelstürmer. Ja, wir haben ein Problem im Tor durch die vertrackte Neuer-ein-Jahr-Vertrag-Situation. Dass wir einen neuen Weltklassetorhüter spätestens nach der EM brauchen, der sich vorher aber sicher nicht bei uns auf die Bank setzt. Ja, das Duo aus Kimmich und Goretzka funktioniert vermutlich nur dann, wenn Leon seine Rolle zukünftig komplett anders interpretiert. Aber vielleicht kriegt er das ja hin? Er ist ja nicht doof und hat einen Trainer, der ihm dabei helfen kann. 

Aber ich sehe keinen unausweichlichen großen Umbruch. Sondern einen – potenziell – sehr guten und LEISTUNGSBEREITEN Kader mit viel Luft nach oben bei Form, Konstanz und Konzentration. Was doch eigentlich eine schöne Aufgabe für unseren neuen Trainer ist in der Saisonvorbereitung.

Nachtrag:

„Wenn wir nicht Meister werden, ist das eine Katastrophe“, sagte Oliver Kahn nach dem Mainz-Spiel. Da muss ich widersprechen. Es gibt, auch wenn das mediale Narrativ ein anderes ist, keine Gesetzmäßigkeit der ewigen Meisterschaft des FC Bayern. Ich habe in den letzten 11 Jahren immer dagegengehalten, dass es eine enorme Herausforderung ist, sich Woche für Woche zu fokussieren, seine Qualität auf den Platz zu bringen, zu performen. Du kriegst nichts geschenkt. Viele Gegner spielen gegen die Bayern mit Schaum vorm Mund. Immer ohne „Druck“, denn den haben immer nur die Bayern. Die MÜSSEN gewinnen, am besten schön und hoch. 2 Jahre lang, 4 Jahre lang, 8 Jahre lang, ELF JAHRE LANG ist das immer wieder gelungen. So dass es zur „Normalität“ wurde. Aber es war natürlich nicht normal. War es nie. Entstanden ist eine kranke Erwartungshaltung, eine Perversion der Ansprüche. Thomas Tuchel wies zurecht darauf hin, dass er ähnliche Ansprüche in Paris erlebte – und wie verkehrt er das schon damals fand. 

Wird der FC Bayern nicht Meister, ist das also keine „Katastrophe“, sondern eine sportliche Niederlage. Aus Gründen. Die cool, sachlich und schlau analysiert werden müssen.

Lasst uns versuchen, ebenso zu analysieren, unsere Spieler als Menschen zu sehen, die grundsätzlich Bock haben, unser Trikot zu tragen. Mir selbst gelingt das in der Emotion während des Spiels auch nicht immer. Aber mit etwas Abstand sollte das möglich sein.